Punkte bleiben diese Saison in Mode, besonders bei Bärenschleifen. Der große Braune sitzt in einem Thüringer Schaufenster. Das Guinness-Buch der Rekorde bestätigt, dass er der Größte ist, im Stehen fünf Meter sechzig. Aber fürs Stehen reicht der Platz nicht. Außerdem wohnt er nicht allein. Mehr als 2 000 verschiedene Modelle wurden in der Firma erfunden. Die Bären sehen lieb, frech oder melancholisch aus. Es gibt ausgesprochen schüchterne Exemplare, weltläufige Dandys und unbekümmerte Draufgänger in geringelter Badehose. Damen mit grüner Blüte im Haar hören auf den Namen Frieda Frühling. Mit den Jahreszeiten wechseln die Farben, doch die meisten Teddys bevorzugen Braun: Senf, Krokant, Karamell, Schokolade…
Von außen sieht es aus, als hätte Sina Martin den nettesten Beruf der Welt. Von früh bis abends darf sie sich mit Kuscheltieren befassen. Die zierliche junge Frau wirkt beinahe noch wie ein Kind oder wie Gulliver bei den Riesen, wenn sie sich an den Großen im Schaufenster lehnt. Auf der Hand hält sie ein nachdenkliches Fell mit Strohhut. Das sollte längst verkauft sein. „Aber ich kann mich nicht von ihm trennen, ich weiß nicht warum, er sieht mich so an.“ Also darf er noch eine Weile auf ihrem Schreibtisch sitzen, der wirklich noch wie ein Schreibtisch aussieht und nicht wie von hippen Büronomaden designt.
Sina Martin ist 27 und Chefin der Firma Martinbären in fünfter Generation. Der Ururgroßvater gründete das Unternehmen 1924. Sonneberg galt mal als die wichtigste Spielwarenstadt der Welt. In jedem zweiten Haus wurde gefeilt und genäht. Amerikaner kamen auf dem Weg zur Leipziger Messe vorbei und bestellten die Ware direkt. Später gründeten sie eigene Handelshäuser vor Ort. Das könnte manchen Prachtbau erklären. Viel Prächtiges besitzt die Stadt sonst nicht. Im Stadtpark wird vielleicht im Frühjahr wieder ein Baum gesetzt. Damit bedanken sich die Martins für den Kauf eines Umweltbären.
So ein rundum ökologischer Bursche sitzt in der oberen Etage. Zur Firma gehört neben dem Laden ein Museum. Regale vom Fußboden bis zur Decke. Lauter Charakterköpfe. Achsinddiesüß! Wer das anders sieht, hat kein Herz. Erwachsene erkennen gerührt die Gefährten der Kindheit wieder.
Sina Martin erzählt, dass ihr eigener Teddy einfallsreich Bärli hieß, dass er etwas abgeliebt wirkt, dass es ihn aber selbstverständlich noch gibt. Für ihre zweijährige Tochter Aria entwirft sie jedes Jahr ein eigenes Exemplar. Da wird das Haus voll. Ihr Lebenspartner toleriert es. „Ich bin froh, dass ich jemanden gefunden habe, der mich unterstützt und wie ich hierbleiben will“, sagt Sina Martin.
Ihre Oma Trude inszenierte das Volk im Museum wie auf der Bühne. Cowboybären galoppieren durch eine Wildwestlandschaft, vorbei an Planwagen mit Kutscherbären und Indianerbären mit echtem Federschmuck vor dem Wigwam. Die nächste Szene zeigt Teddys beim doppelten Salto in der Zirkuskuppel. Als Schüler lümmeln sie in den Bänken und tun interessiert. Reizende Strickpullis übrigens. In einer Vitrine fährt ein winziger Bär einen noch winzigeren Bären im Kinderwagen spazieren. Sohn oder Tochter? Gendergerechtigkeit ist trotz Lupe nicht zu erkennen.
Sina Martin sagt, dass sie schon im Kindergarten als Dreijährige auf die Frage nach dem Berufswunsch angab: Chefin der Bärenfirma. „Die Familie hat Teddybären gelebt. Ich habe damit gespielt, war bei Fachmessen mit. Die Frage hat sich nie gestellt, etwas anderes zu machen.“ Sie war 22 Jahre alt und noch Studentin, als sie den Vater als Leiter ablöste. Sie studierte Wirtschaftsinformatik in Ilmenau. Betriebsablauf, Marketing und Warenwirtschaft kann sie professionell organisieren.
Ein Teddy ist nicht bloß Kuschelfaktor und Talisman, Seelentröster und Kunstgut. Er ist auch Ware. Das Geschäft läuft nicht von selbst. Sina Martin muss sich was einfallen lassen. Sie verschickt regelmäßig 4 000 Briefe an Stammkunden und andere Bärenfreunde. Sammeln kann auch dann zur Sucht werden, wenn Angoraziegen ihr Haar lassen. Es wird in Baumwollstoff eingewebt. So entsteht Mohairplüsch, gefärbt, geschnitten, geknautscht. Fast die Hälfte verkauft die Chefin übers Internet.
In der Firmengeschichte widerspiegelt sich die Geschichte der Zeit. Die Martinbären überstanden Weltwirtschaftskrise und Weltkrieg. Der Verstaatlichung in der DDR entgingen sie nicht. Das Unternehmen kam zum VEB Sonni und wurde 1981 mit zwei Dutzend anderen vereint zum Kombinat Spielwaren Sonneberg. VEB Prefo Dresden, VEB Spielwaren Kamenz, VEB biggi Waltershausen, VEB Anker-Mechanik Eisfeld, VEB Vero Olbernhau – alles Spielbare und Puppenhafte wurde unter einem Dach verwaltet. Mit dem Ende der DDR kam das Dach abhanden, und nicht nur das. Im Kombinat waren 24 000 Menschen beschäftigt. Heute muss man auf der Internetseite der Spielzeugstadt Sonneberg lange nach Spielzeugherstellern suchen.
Die Produktionshalle der Martinbären macht einen überschaubaren Eindruck. Zwei Tische zum Nähen, eine Tafel zum Zuschneiden und ein Raum für die Innereien: Holzwolle und Vlies. Teddybärstopfer ist ein schwerer Beruf. Mithilfe von Trichtern werden die Krümel ins Fell hineingepresst bis ins letzte Ohrläppchen, falls Bären Ohrläppchen haben. Die Branche schert sich wenig um die Realität. Der typische Bärenbuckel verschwindet, der Kopf wird runder, der Gesichtsausdruck niedlicher. Das einst wilde Tier hat seinen Schrecken verloren. „Das Böse wird verkuschelt“, rügen Volkskundler streng. Sie würden die heilige Bärenfamilie mit dem Bärenkind in der Krippe kaum durchgehen lassen.
Sina Martin hat sieben Mitarbeiter. Einige arbeiten nur in Kindergärten und Schulen: Bärbasteln als Geschäftsmodell. Es rechnet sich bei zwölf Euro pro Stück und mindestens 40 Kindern am Tag, wenn der Einsatzort nicht zu weit weg liegt.
Roxana Brum hält einen Teddy auf dem Schoß und schließt mit schnellen Stichen die Rückennaht. Die Krallen markiert sie mit schwarzer Wolle. Ein paar kräftige Bürstenstriche, und fertig. Der Bär ist ein älteres Modell und hört deshalb auf den Namen Brumm-Antik. Die Augen versprechen ewige Treue. Dafür sorgen Glasbläser aus Lauscha. Der passende Ton kommt aus dem nahen Effelder. „Karl-Tierstimmen“ ist die einzige Firma europaweit, die Bären zu Wort kommen lässt. Auch Kühe, Möwen und Mäuse, Hauptsache, da ist genug Platz. Bären brummen ab Körpergröße 35. Und nein, liebe Bewohner hoch technisierter Kinderzimmer, da ist kein Chip implantiert, da wird nichts ferngesteuert.
Manchmal, sagt Roxana Brum, spricht sie beim Nähen mit den Teddys. Einer wird gelobt, weil die Nasenfarbe zur Fußsohle passt. Ein anderer, weil er einen hübschen Hut trägt. Die Schnittmuster hängen auf Stangen wie Kleider auf Bügeln. Schnitte sind das Wichtigste: Tradition, Markenkern und Know-how. Sina Martin erzählt, wie ihr Vater mit Oma Trude das Material gerade noch retten konnte, bevor es mit dem Kombinat verramscht wurde. Rückübertragung. Neuanfang. Edle Handarbeit statt bunter Plastikmüll. Manchmal steigerte ein Auftritt bei TV-Verkaufssendern den Absatz. Sina Martin erinnert sich, wie sie als Kind mit dem Vater in die USA fuhr und dort mit einem Teddy vor der Fernsehkamera auftrat. „Ich hatte ein Dirndl an, denn Dirndl signalisierte: deutsch“, sagt Sina Martin. „Der Teddy war sofort verkauft.“
Zurzeit hat sie rund 500 verschiedene Exemplare im Angebot. Von manchen gibt es wie bei künstlerischer Grafik nur wenige Stücke – umso kostbarer erscheinen sie. Dann sind Sammler bereit, für einen antiken Brummer knapp 200 Euro zu zahlen. Schönheit pur gibt es aber auch schon für 30 Euro: umwerfende Drillinge zum Selberbasteln. Allerdings besitzen sie keine Scheiben in Schulter, Hüfte und Hals. Martinbären sind stolz darauf, fünffach beweglich zu sein.
Die Stückzahl richtet sich nicht nur nach dem Bedarf. Der Jahresbär 2017 – edles Silbergrau mit Halskrause – wird genau 2017-mal produziert. „Wir wollen nicht unbedingt Masse machen, wir sind doch keine Maschinen“, sagt Sina Martin. Maßarbeit ist ihr lieber. Kunden können persönliche Bären zu Geburtstagen, Hochzeiten und anderen Festen verschenken.
Namen und Daten werden auf die Bärensohlen gestickt. Auch Jeans werden auf Wunsch zu Teddys verarbeitet. Einmal, erzählt Sina Martin, brachten Arbeiter die alte Latzhose ihres Kollegen, der in Rente ging. „Der Abschiedsbär war ein voller Erfolg.“
Für ihren Vater hat sie so einen noch nicht entworfen. Der 62-Jährige kommt immer noch mal in den Betrieb, bringt eine neue Idee mit und experimentiert. „Es war ein unkomplizierter, fließender Übergang“, sagt die Chefin. Wenn sie das Haus verlässt, dreht sie sich oft noch mal um. Es sieht aus, als würde ihr der Große hinter der Fensterscheibe nachschauen.
DANKE!
Danke an die Sächsische Zeitung für den tollen Artikel, besonders an Karin Großmann für den Text und Thomas Kretschel für die Fotos!